Das Floß der Medusa

Allgemein, Schauspiel

nach dem gleichnamigen Roman von Franzobel | Nationaltheater Mannheim | 2021

Bühne & Kostüm: Joki Tewes & Jana Findeklee
Musik: Jens Dohle
Choreografie: Alan Barnes
Dramaturgie: Sascha Hargesheimer, Beate Seidel
Fotos: ©Christian Kleiner



Die französische Küche ist die größte kulturelle Leistung der Menschheit“, sagt eine der Figuren im Stück „Das Floß der Medusa“. Heißt das, die Schiffbrüchigen (mit Koch!) zelebrieren Kannibalismus? Die Auflösung zögert die Inszenierung von Christian Weise am Nationaltheater Mannheim lange hinaus. Sie basiert auf einem Roman des österreichischen Schriftstellers Franzobel über ein reales Unglück im Jahr 1816. Ein französisches Schiff, befohlen von einem unfähigen Kapitän mit guten Beziehungen, läuft vor dem Senegal auf eine Sandbank. Weil Rettungsboote nur für die „Wichtig, wichtig“-Fraktion reichen (und für die Garderobe der Gouverneursgattin), bauen sich die restlichen Überlebenden aus

Schiffsteilen ein Floß. Mehrere Tage treibt es über das Meer. Ein Großteil der ursprünglichen Besatzung landet in den Mägen der 15 Überlebenden.

Passiv-aggressiver Kreuzfahrttrip

So weit die Handlung. Aber erst mal gibt es für das Mannheimer Publikum etwas auf die Ohren: eine deutsche Version von „My heart will go“ – und „Wahnsinn – du schickst mich in die Hölle“ von Wolle Petry. Regisseur Weise nutzt die Möglichkeiten des Mannheimer Bewegungschors nicht nur gesanglich. Er schafft mit ihm die Atmosphäre eines passiv-aggressiven Kreuzfahrttrips mit historischen Anleihen. Eine angestrengt fröhliche Menge ergötzt sich am Mobbing eines Kombüsenjungen. Die gelangweilte Gouverneurin lässt einen Soldaten vor im Takt klatschenden Gästen zu Tode peitschen. Zwischendrin scheitert der mit einer grotesk großen Medaille behängte Kapitän am Kampf mit einem Liegestuhl: Die Katastrophe kommt in Mannheim daher in Gestalt einer überdrehten bitter-bösen Revue. Die Bühne ist gestaltet als türkise Foyer-Bar mit Tanzpodest. Von den Wänden hängen Lamellen, die die Projektionen dreidimensional verzerren – unter anderem das bekannte, zeitgenössische Gemälde von Théodore Géricault, das heute im Louvre die Medusa-Tragödie zeigt.

Zivilisatorische Schicht, die bricht

Atmosphärisch wirkt der Raum (Bühne: Jana Findeklee, Joki Tewes), als hätte eine böse Seele das Traumschiff mit Barock gekreuzt und dann mit Abwrackpatina vergiften wollen. Die Botschaft ist klar: Die Schicht der Zivilisation ist dünn und sie bricht schon vor der Havarie. Regisseur Weise setzt das klug um mit seinen Darstellern. Sie spielen durchgehend die gleiche Rolle, aber als verschiedene, vordergründig gegensätzliche Personen. Christoph Bornmüller ist überfordert-weinerlich – sowohl als Kapitän wie auch als Schiffsarzt, der auf dem Floß vergeblich die Moral hochhalten will. Annemarie Brüntjen ist fordernd-aggressiv als Offizier, der den Kapitän stürzen möchte, wie als Floßinsasse, der für das Gesetz des Stärkeren plädiert (also für Kannibalismus). Durch diese Doppelung verschwimmen die Grenzen von Gut/Böse, moralisch/unmoralisch. Was dabei heraus kommt: Kapitän und Schiffsarzt sind beide entscheidungsschwach und fehl am Platz. Offizier und Kannibale am Ende einfach Egoisten. In der Kreuzfahrt-Zivilisation gehen sich die Menschen genauso an die Gurgel.

Auf dem Floß kommen sie dann ganz zu sich und ihrer nackten Grausamkeit. Und weil man tief im Inneren als Publikum – bezogen auf die Kunst – ähnlich denkt, kommt einem das Warten auf das Schlachten viel zu lange vor. Werk und Inszenierung stellen den Splatter nicht in den Mittelpunkt. Aber zur Einführung im Foyer heißt es, das Stück solle in seiner Grausamkeit auch unterhalten. Das tut es, wenn der Chor zu klassischer Musik Choreografien in bunten Hai-Kostümen tanzt. Wenn die Schauspieler, an Fleisch lutschend und mit saftiger Ausdrucksweise, in der Erzählung der Tage auf dem Floß schwelgen.

Es geht einem bei der Auseinandersetzung mit den menschlichen Abgründen ein bisschen wie mit dem Schiffsarzt. Wenn der Hunger quält, will man nichts hören von Diderot, Rousseau oder Voltaire. Sondern man will wissen, was die französische Küche unter Extrembedingungen leistet.

Steffen Becker, Nachtkritik




Eine große Stärke des Abends liegt darin, dass in den Wogen dieser Katastrophe geradezu alles verfließt – und damit viele Assoziationen ineinander gespült werden. Man denkt an den legendären Untergang der Titanic 1912 oder an den Kapitän der 2012 verunglückten Costa Concordia; aber auch an die vielen Flüchtlinge, die bis in die Gegenwart auf dem Mittelmeer einen schlimmen Wassertod gestorben sind. Was passiert in solchen Extremsituationen? Wie lange gelten zivilisatorische Prinzipien, und wann bricht im Überlebenskampf die pure Gewalt hervor?

Irgendwie sitzen wir auch in der Corona-Pandemie alle in einem Boot. Solange sie nicht weltweit besiegt ist, stellt sie eine Gefahr für die Menschheit dar. Und diese See wird derzeit durch Konflikte und Aggressionen immer krauser. Hoffentlich bedeutet diesbezüglich die Verrohung auf der „Medusa“ kein Menetekel für die Zukunft. Hoffnungsträger und einer der Überlebenden auf dem Todesfloß ist der Schiffsarzt Savigny, ein Mann der Aufklärung und der leuchtenden Menschlichkeit. Aber selbst er gerät in Gefahr, von inhumaner Finsternis verschlungen zu werden.

Gleichwohl wird der Unterhaltungsstil bis zum Schluss durchgezogen. Amüsieren wir uns zu Tode? Zu hören waren bis dahin etwa der Soundtrack des ZDF-Traumschiffs, Charles Trenets sehnsuchtsvolles Chanson „La Mer“ oder Wolfgang Petrys Song „Wahnsinn“ mit der Zeile: „So ein Wahnsinn warum schickst du mich in die Hölle“. Diese ist tatsächlich erreicht, als am Ende Fleischstreifen aus den Toten geschnitten werden. Chronist Savigny trägt da eine Art Hautkostüm, aus dessen Taschen die anderen Hungernden lange rote Fäden ziehen, um sie zu essen. Als Zuschauer kann man diese dann aber nicht mehr für besonders schmackhaft halten.

In Frankreich wurde das Schreckensszenario seinerzeit verdrängt, aber der Romantiker Théodore Géricault hat es 1819 in seinem monumentalen Gemälde „Das Floß der Medusa“ festgehalten. Und der Autor Franzobel, der schon wiederholt beim Heidelberger Stückemarkt vertreten war, hat das Geschehen 2017 aktualisiert. Vollends an den schnellen Puls unserer aufgewühlten Zeit führt nun diese packende Mannheimer Inszenierung. Dafür gab es starken Applaus.

Heribert Vogt, Rhein-Neckar-Zeitung