Das Käthchen von Heilbronn

Allgemein, Schauspiel

 

von Heinrich Kleist | Nationaltheater Mannheim | 2021

Bühne & Kostüm: Joki Tewes & Jana Findeklee
Musik: Jens Dohle
Dramaturgie: Sascha Hargesheimer
Fotos: ©Jana Findeklee



»Mit Augenzwinkern

Christian Weise, der Hausregisseur des Nationaltheaters Mannheim, hat sich einen guten Ruf als Demonteur von Klassikern der Literaturgeschichte erarbei- tet. Nun hat er ihn gefestigt: mit einer Gaga-Variante von Heinrich von Kleists Ritterschauspiel „Das Käthchen von Heilbronn“.

Mögen muss man es nicht. Aber es ist mittlerweile gang und gäbe, beim Sprechen immer wieder mal einen englischen Ausdruck einfließen zu lassen. „Weird“ ist da gerne genommen (zu Deutsch: seltsam). „Lost“. Eine Umschreibung für Ahnungslosigkeit. Oder „random“. Das beschreibt völlig zusammenhanglos auftauchende Situationen. Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, folgt diesem Trend und wiederholt Sätze, selbst ganz banale, immer wieder auf Englisch. Nicht in Kleists Original-„Käthchen“. Aber bei Christian Weise, dem Regisseur des Mannheimer Käthchens.

„Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe“, uraufgeführt 1810 in Wien am Theater an der Wien, ist ein im Mittelalter angesiedeltes Ritterschauspiel. Waffenschmied Theobald Friedeborn (Almut Henkel) beschuldigt den Grafen vom Strahl (Jessica Higgins) vor einem Gericht, seine Tochter Katharine, genannt Käthchen (Vassilissa Reznikoff) verzaubert und belästigt zu haben. Tatsächlich folgt sie ihm aber freiwillig. Bis zu ihrem gesellschaftlichen Aufstieg, der Anerkennung als Tochter des Kaisers und der Heirat mit dem Grafen, sind noch etliche Verwicklungen zu entwirren und Intrigen zu überstehen. Der Graf hat zudem eine alte Fehde mit Kunigunde von Thurneck (Christoph Bornmüller), die zwischendurch versucht, sich durch eine Hochzeit mit ihm die begehrten Ländereien zu sichern.

Wenn Sie bis hierhin aufmerksam gelesen haben, werden Sie festgestellt haben, dass Regisseur Christian Weise fast alle Rollen gegen den Strich besetzt hat. Wenn man eine Liste aufstellen würde mit Möglichkeiten, die ein Regisseur hat, um einen literarischen Klassiker in die Moderne zu katapultieren, muss man sagen: Christian Weise hat sie alle genutzt. Radikale Kürzung und auch Veränderung des Textes – erledigt. Knackige 90 Minuten dauert seine Inszenierung, mitverursacht durch die im vergangenen Jahr geltenden Bühnen-Beschränkungen – das „Käthchen“ war seit No- vember fertig. Radikale Kürzung des Personals von über 30 auf sechs Personen – erledigt. Besetzung von Männerrollen mit Schauspielerinnen und Besetzung von Frauenrollen mit Schauspielern – in drei von sechs Fällen erledigt.

Und damit auch jeder versteht, dass wir es hier mit der ultramodernen Variante eines Klassikers zu tun haben, ist der Schauplatz, eine mittelalterliche Burg, nur silhouettenhaft angedeutet. In Flammen steht sie nur digital – aber daran haben wir uns ja mittlerweile gewöhnt. Christian Weise und seine Schauspielerinnen und Schauspieler feiern den Klamauk. Zwischendurch stoppt die Handlung immer wieder abrupt (und ziemlich random), damit sie Songs hören oder singen können von David Bowie („He- roes“), den Beatles („Lucy in the Sky with Diamonds“ ) und Christina Aguilera („Say Something“). Apropos David Bowie: Die wunderbare Jessica Higgins als Graf vom Strahl sieht genauso aus wie der androgyne Sänger in seinen „Ziggy Stardust“-Jahren. Er/Sie trägt einen weiß-goldenen Anzug und bis zu den Knien reichende weiße Lederstiefel mit Absatz und hat einen Hüftschwung wie eine Discoqueen. Vassilissa Reznikoffs Käthchen dagegen ist genau die brave, unterwürfige und tendenziell un- glückliche Unschuld vom württembergischen Lande, als die Kleist sie gezeichnet hat. Die Marketinggesellschaft der Stadt Heilbronn ernennt übrigens alle zwei Jahre drei junge Damen zu Käthchen als Botschafterinnen der Stadt.

Das Käthchen kann man als zerrissene Figur sehen, als junge Frau auf der Suche nach ihrer Identität, man kann sie unter feministischem Blickwinkel als Opfer in einer patriarchalen Gesellschaft sehen, in der Vergewaltigung salonfähig ist und bei Kleist mit dem Euphemismus beschrieben wird, der Kaiser habe sich mit Käthchens Mutter Gertrud „unterhalten“. Diese psychologische Sicht hat bei Weise keinen Platz, und er hat dafür auch keine Zeit. Die Spielfilmlänge reicht gerade, um all den Klamauk unterzubringen, den er sich ausgedacht hat. Auf die Spitze treibt er seine Klassiker-Entstaubung, als Käthchen aus ihrer Rolle tritt, Theaterkollegen zu sich ruft („Bernd, ich bräuchte ein Mikrofon!“, „Ist irgendjemand von der Requisite noch da?“) und verkündet: „Den Kaiser spiel’ ich jetzt einfach selbst, damit das Ganze ein bisschen in Schwung kommt.“

Mehr Unterhaltung geht nicht? Doch. Da schauen wir zum Beispiel die ganze Zeit auf zwei Porträtgemälde an der Wand. Irgendwann geht bei einem Bild eine Klappe auf und der Rheingraf vom Stein (Robin Krakowski in Bikerkluft) schaut neckisch durch. Es scheint, als würde Regisseur Weise 90 Minuten lang mit den Augen zwinkern. Der gräfliche Knecht Gottschalk (László Branko Breiding) schöpft fortwährend Wasser aus einem Brunnen und schüttet es wieder aus. Der Krug, möchte man meinen, geht so lange zum Brunnen, bis er ein zerbrochener ist. Christian Weise kennt seinen Kleist, völlig klar. Und deswegen darf er ihn so herrlich respektlos (und ein bisschen weird) demontieren.«

Nicole Sperk, Die Rheinlandpfalz



»Absurdität gestern und heute

Nahezu Himmel und Hölle werden in Bewegung gesetzt, damit Käthchen ihren Geliebten am Ende kriegt. Jedenfalls treten Engel und eine Art Satan auf, auch der Kaiser höchstselbst greift ein, um die Ehe zwischen der vermeintlich bürgerlichen Fünfzehnjährigen und dem blaublütigen Grafen vom Strahl zu ermöglichen. Dies zeigt schon, wie hoch – nämlich fast unüberwindlich – die Hürden für das persönliche Glück in Heinrich von Kleists großem historischen Ritterschauspiel „Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe“ sind. Und so zeichnet Christian Weises Inszenierung dieser so wirren und schier aussichtslosen Lovestory aus dem Jahr 1810 im zu einem Sechstel besetzten Schauspielhaus des Nationaltheaters Mannheim ein gesellschaftliches Absurdistan, vor dem wir heute keineswegs sicher sein können.

Zunächst fragt man sich, ob nicht die gegenwärtig zeitgemäße Lösung aller Proble- me darin liegt, dass die Guten in dem Stück – also auch Käthchens Geliebter und ihr Vater – von Frauen gespielt werden, während ausgerechnet die Darstellung der teuflischen Kunigunde durch einen Schauspieler mit toxischer Männlichkeit erfolgt. Jedoch ganz so einfach scheint es doch nicht zu sein, denn davon unbeeindruckt, läuft die Gesellschaftsmaschinerie auf Hochtouren. Und die Welt ist aus den Fugen geraten. Das reicht von ungerechten sozialen Grenzen über knallharte Interessenkonflikte bis hin zur Bombardierung einer Burg, die schließlich lichterloh in Flammen steht.

Aber auch heute gilt für viele Menschen: Mein Zuhause ist meine Burg. Und so gleicht das trutzige Domizil des Grafen vom Strahl in der Ausstattung von Jana Findeklee und Joki Tewes (Bühne, Kostüme) eher einer bürgerlichen Wohnung, über der nur dann und wann Türme wie Zinnen andeutungsweise aufleuchten. So gesehen, sind wir alle ein bisschen Adel. Vor allem aber wird das Historienspektakel durch die Musik (Jens Dohle) mit dem heutigen Lebensgefühl verbunden, denn es wird viel intoniert wie auch gesungen. Darunter sind etwa der auch von Frank Sinatra interpretierte Bossa Nova-Song „The Girl from Ipanema“ oder die Beatles-Nummer „Lucy in the Sky with Diamonds“, aber es wird auch gerappt.

Insbesondere durch die anglo-amerikanisch geprägte Popkultur wird die angestaubte Ritterwelt gehörig aufgemischt. Und das zieht sich fort bis in die Figuren. Denn auch Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, wechselt sprachlich immer wieder ins Englische. Jessica Higgins spielt Käthchens Geliebten in einem spektakulären, eng anliegenden Ritter-Glamour-Show-Look, der an die Rocklegende Elvis Presley erinnert, nur dass die Schauspielerin sehr viel schlanker agiert. Da wirkt der Standesunterschied schon wie Tag und Nacht, wenn Almut Henkel den Vater Käthchens, den Schmied Theo- bald Friedeborn, als energisches Hutzelmännchen gibt. Und Vassilissa Reznikoff in der Titelrolle zeichnet eine recht verhuschte Liebende, die trotz ihrer Träume zu wis- sen scheint, was sie wirklich will.

Die Bösewichtin des Stücks, die Giftmischerin Kunigunde von Thurneck, stellt Christoph Bornmüller hingegen sehr schräg als macht- und besitzgeiles Monster dar. László Branko Breiding verkörpert Strahls urigen Knecht Gottschalk, und Robin Krakowski galoppiert per pedes als besonders breitschultriger Rheingraf vom Stein in einer Art Motorradmontur durch die Szenerie. Das Ganze wird mit viel Situationskomik – bisweilen mit Klamauk –, aber stets auch mit dem angemessenen Corona- Abstand auf die Bühne gebracht.

Angesichts der großen Turbulenzen im Stück wie auf der Bühne reibt man sich nach Käthchens Happy End die Augen: Es kann doch nicht wahr sein, dass die unaufhörlich arbeitende Gesellschaftsmechanik plötzlich zum Stillstand kommt und nach dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ die große Harmonie ausbricht. Vielmehr gilt für das Leben: Alles fließt. Für Käthchen wie für ihren Grafen kehrt final zwar eine Ruhe nach dem Sturm ein, aber sie ist trügerisch. Denn die nächsten Schicksalsböen warten schon.

Das Muster, dass nach dem Sturm oft vor dem Sturm ist, erinnert auch an die Corona-Pandemie, in der nach der Welle vor der Welle zu sein scheint. Wahrscheinlich sind Erfolge oder Glück dieser Erde immer vorläufig und vorübergehend. Dessen ungeachtet wurde der Abend genutzt, um das volle Theatererlebnis zu bieten und zu genießen. Dafür gab es freundlichen Applaus.«

Heribert Vogt, Rhein-Neckar-Zeitung