Hamlet

Allgemein, Schauspiel

 

von William Shakespeare | Maxim Gorki Theater Berlin | 2020

Bühne: Julia Oschatz
Kostüm: Paula Wellmann
Livemusik: Jens Dohle
Dramaturgie: Ludwig Haugk, Aljoscha Begrich
Fechtchoreographie: Klaus Figge
Fotos: ©Ute Langkafel


»Der Dänenprinz aus „Dschörmennie“

Leicht hatte es der Dänenprinz Hamlet noch nie. Zur Beerdigung seines Vaters ins heimische Schloss gerufen, stellt er fest, dass seine Mutter Gertrud neu liiert ist: ausgerechnet mit seinem Onkel Claudius, dem neuen Machthaber. Zu nächtlicher Stunde erscheint dem gebeutelten Hamlet auch noch der Geist seines toten Vaters und erklärt, dass er hinterrücks ermordet worden sei – von Claudius. Er möge ihn bitte schön rächen.

Diese Aufgabe, die Hamlet bereits bei Shakespeare überfordert, gestaltet sich in Christian Weises Inszenierung am Gorki Theater noch komplizierter. Hier geht es nicht nur um kleine Familien-, sondern große Ideengeschichte. Der väterliche Geist sieht aus wie Karl Marx und trägt als Schuhwerk zwei kleine Filz-Panzer an den Füßen, die Rohre schussbereit aufs Gegenüber gerichtet. Unter der Marx-Perücke steckt Schauspielerin Ruth Reinecke, die sich mit dieser Rolle nach über vierzig Jahren würdig aus dem Gorki-Ensemble verabschiedet und noch einmal daran erinnert, was und wie auf dieser Bühne zu DDR-Zeiten gespielt wurde.

Aus den Tiefen tauchen plötzlich wieder Revoluzzer-Ideale auf

Wir sind also nicht in Dänemark, sondern mitten in „Germany“ oder „Dschörmennie“, wie die Schauspieler gern sagen. Direkt in der Gegenwart des Maxim Gorki Theaters, in dem Akteurinnen und Akteure aus Damaskus, New York, Magdeburg oder eben (Ost-)Berlin zusammen an einer möglichst coolen „Hamlet“-Variante stricken und dabei von Geistern der Vergangenheit heimgesucht werden: von abgehalfterten Ideen und privaten Erinnerungen, die kollektive Herkunftsnarrative spiegeln, von Leichen und Revoluzzer-Idealen, die im Keller Staub angesetzt haben.

Weise gelingt ein Abend, der ebenen- und geistreich sowie unterhaltsam ist. Um alle Stränge zu bündeln, hat er sich für ein Filmset als Grundkonstellation entschieden: Der von Oscar Olivo gespielte Hamlet-Kumpel Horatio ist hier ein mittelmäßiger New Yorker Filmregisseur, der in der Hauptstadt von „Dschörmennie“ seine Chance auf ein Erfolgsprojekt wittert. Da geht es weniger um historische Genauigkeit als steile Thesen: Weises Inszenierung badet genüsslich in ihrem Overkill an Ideen und Bezügen, an Bildern und Darstellungslust.

Julia Oschatz schuf als Bühnenbild ein kleines Meisterwerk

Im Container, der als temporäre Zusatzspielstätte vor dem Gorki steht, hat Julia Oschatz ein kleines Meisterwerk von einer Filmset-Rauminstallation gebaut, die auf die Bühnenwelten von Vegard Vinge und Ida Müller rekurriert. Das „Hamlet“-Movie, das hier über weite Strecken des Abends gedreht wird, wird über die gesamte Bühnenbreite als Live-Film projiziert.

Man sieht Aram Tafreshian in diesem Möchtegern-Hit als pragmatischen Claudius, der rein optisch an den für seine Shakespeare-Verfilmungen berühmten Schauspieler Kenneth Branagh und ideell an einen sozialdemokratischen Politfunktionär gemahnt. Nach wie vor rauscht der neue Staatschef, nachdem er sich buchstäblich des Marx’schen Geistes entledigt hat, per Fahrstuhl aus den oberen Realo-Etagen der Macht hinab in seinen grauen Devotionalien-Keller, um sich an den Büsten von Karl und Rosa zu wärmen. Auf dem Weg zurück nach oben wird schnell noch Polonius, der Hausangestellte mit Migrationsgeschichte (Falilou Seck), für (familien-)politische Zwecke instrumentalisiert. Nebst seiner Tochter Ophelia, die Kenda Hmeidan mit einer Klarheit und Kitschfreiheit spielt, wie es bei dieser Rolle selten gelingt.

Catherine Stoyan brilliert als Claudius’ frisch anvermählte Gattin mit neckischem Braut-Anzug, großartiger Betonfrisur und Versteinerungsmiene. Sohn Hamlet outet sich in Gestalt der Schauspielerin Svenja Liesau als Ostlerin aus Magdeburg. Liesau tritt regelmäßig aus dem Filmset heraus an die Rampe und definiert in einem Potpourri aus Zuschauerprovokation, Berufsbefindlichkeitsgeplauder und Meta-Theater-Diskurs das Genre der Publikumsansprache neu. Unglaublich, wie differenziert und gegenwartsdurchlässig die Schauspielerin diesen Dänenprinzen aus „Dschörmennie“ spielt: verletzend, verletzt, tragödisch und trashig, knallhart im Austeilen, stolz im Einstecken, temporär romantisch verliebt und am Ende butterweich beim Sterben – ein Ereignis!«

Christine Wahl, Tagesspiegel


»„Na jut, ick mach’s“, will Svenja Liesau geantwortet haben, als Christian Weise sie gefragt habe, ob sie die Titelrolle in seiner „Hamlet“-Inszenierung spielen wolle. Der Regisseur habe so verzweifelt geklungen, dass sie es nicht abschlagen konnte. Erst später habe sie mitbekommen, dass es sich um das längste Stück von Shakespeare handelt und dass ungefähr die Hälfte des Textes von Hamlet gesprochen wird.

Nichts ist echt

Wir sehen die Schauspielerin zum ersten Mal in Fleisch und Blut, als sie uns das in einer komischen Improvisation alles erzählt, und da ist der Premierenabend im Gorki-Container schon 20 Minuten alt. Bis dahin − und auch im weiteren Verlauf − blicken wir viel auf den eisernen Vorhang. Das meiste findet dahinter, in einer detailliert ausgeschnittenen und angemalten, perspektivisch verschobenen und verschachtelten Pappkulissenwelt (Bühne: Julia Oschatz) statt und wird von Livekameras übertragen.

Die Figuren stecken in selbstgestrickten, knallfarbigen Kostümen von Paula Wellmann, auch die Haare und Bärte sind aus Wolle und die Schuhe angepinselt. Kurz: Alles ist nachgebildet, nichts echt. Und das ist auch kein Wunder, denn hier wird ein Film gedreht − und Film ist Lüge. Das schließt auch das Filmteam mit ein, das zumindest teilweise mit Pappkamera und -mikro arbeitet.

Ein amerikanischer Philosophie- und Filmstudent namens Horatio (Oscar Olivo) will die Geschichte des dänischen Prinzen nach Germany übertragen und eine gegenwartsbezogene politische Interpretation wagen – mit deutschen Schauspielern, mit denen zu arbeiten wie Porschefahren sein soll. Und dann nimmt ihm sein Freund Hamlet das Ganze Stück für Stück aus der Hand.

Die Spiel-im-Spiel-Rahmung des Abends ist mit der Mausefalle-Szene, in der das Theater die Mörder entlarvt, von Shakespeare angelegt. Ebenso wie die Ebenen von Spiel und Sein, von Wahn und Wirklichkeit, auf denen Hamlet hoch- und runterklettert, bis er selbst die Ebenen nicht mehr unterscheiden kann und nicht weiß, was er denken und fühlen, geschweige denn, wie er handeln soll. Diese existenzielle Verwirrung ist das Thema dieser Rache-, Bruder-, Gattenmord- und Liebes- und eben auch Theatergeschichte.

Verlorene Fäden

Dass sich das Ganze nun an einem Filmset in der Gegenwart abwickelt und mit fröhlicher Albernheit in jedem Moment mit einem „Cut“ ab- und von Improvisationen unterbrochen werden kann, schafft reiche selbstreflexive Möglichkeiten und Gelegenheiten für Deutungen, Erklärungen, Streitereien − und für Genrewechsel per Ansage, die der Musiker Jens Dohle nach kurzem Nicken passend live vertont.

Die Spielweise in dieser an den Bastelwahn von Vegard Vinge und Ida Müller erinnernden Bilderbuchwelt wechselt zwischen Stummfilm, Stand-up, Puppentheater, Musical, Drama und gefühlsechter Großaufnahme à la Hollywood. Es kann schon sein, dass auch dem echten Regieteam der eine oder andere Faden (zum Beispiel: Marginalisierung des Theaters) oder Deutungsansatz (Spannung von Realpolitik und Idealismus) im Durcheinander der Ideen und Inspirationen verloren gegangen ist − aber das passiert nun mal, wenn man spielt.«

Ulrich Seidler, Berliner Zeitung


»Svenja Liesau als Alleinunterhalter Hamlet
Damit nicht genug ist Hamlet mit Svenja Liesau inmitten dieser schrulligen Figurenaufstellung weiblich besetzt – und im Laufe des Abend immer mehr der Lichtblick. Statt etwa Männlichkeitsbilder zu spiegeln, findet Liesau eine überzeugende Spielweise für den zweifelnden Dänenprinzen, mit inneren Glimmen angesichts der Ungerechtigkeit, ungestüm, aber nicht naiv, sondern mit stillem Zorn, zwischen unterschiedlichen Gefühlen switchend, und mit zwei Comedy-Monologen an der Rampe überzeugt sie in bester Alleinunterhalter-Qualität.«

Simone Kaempf, Nachtkritik

»Steht da etwa eine Mauer zwischen uns?
Christian Weise inszeniert einen historisch informierten, wahrhaft hauptstädtischen „Hamlet“ am Maxim Gorki Theater Berlin

Dieser „Hamlet“ findet nicht in Dänemark statt, dieses Mal ist etwas faul „im Staate Germany“. Der Prinz wird auch nicht von einem Mann, sondern von einer jungen Frau gespielt, die start berlinert, dem Publikum jedoch anvertraut, dass sie aus Magdeburg stammt und privat völlig anders spricht. Das steht nicht in Shakespeares Tragödie, wie noch manches andere auch nicht, das an diesem Abend im Berlin Maxim Gorki Theater zu hören ist – und zwar nicht auf der Hauptbühne, sonder in einem Container auf dem Vorplatz, der dort wegen Sanierungsmaßnahmen als Ausweichquartier für rund zweiter Personen aufgebaut ist. Auf dem Beiblatt zur Aufführung wird neben der Besetzung ein Satz von Heiner Müller zitiert: „Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt“

An der Ambivalenz dieser Worte arbeitet sich der Regisseur Christian Weise in seiner dreistündigen Inszenierung geistreich und humorvoll ab. Einerseits hält er „Hamlet“ inhaltlich-intellektuell auf Distanz, indem er es vermeidet den Tiefen und Abwegen der Gesichte nachzuforschen und lieber zügig der Handlung folgt. Andererseits versenkt er sich mit dem hinreißend verspielten Ensemble so albern-charmant wie empathisch-genau in die Feinzeichnung der Figuren, dass diese ihre enorme dramatische Strahlkraft bezwingend zu zeigen vermögen

All das geschieht weitgehend indirekt. Denn die Darsteller agieren meist hinter einer raumhohen, helle, dem Publikum als Leinwand dienenden Mauer vor den Live-Videokameras von Marlene Blubbert und Samir Nahas und bewegen sich zwischen lauter gemalten Kulissen. Ob der königliche Thronsaal von Catherine Stoyan und Drama Tafreshian als Gertrud und Claudius oder die gute Wohnstube von Falilou Keck als Staatsrat Polonius, ob ein dunkler Keller oder ein Fahrstuhl, ob eine Computertastatur oder ein Kofferradio – alles ist im grandiosen Bühnenbild von Julia Oschatz zweidimensional und handgepinselt. Das gesamte Team ist in diesem kurios antiquierten Setting bestens unterwegs und nutzt im Spagat zwischen Theater und Film alle Möglichkeiten zu kuriosen Effekten.

Vorne rechts sorgt Jens Dohle an Schlagwerk und verschiedenen Tasteninstrumenten für di kongeniale musikalische Ergänzung. Manchmal öffnet sich ein Tor in der Projektionswand, dann kommt die fabelhaft aufgekratzte Svenja Liesau als Hamlet leibhaftig auf die schmale Vorbühne heraus. Wie alle andere ist sie von der Kostümbildnerin Paula Wellmann in aufwendige Strickgarderobe gekleidet und mit einer markanten Perücke ausgestattet worden. Sie schmeißt sich frech und witzig an die Zuschauer heran, dampfplaudert und kalauert, versucht sich an einem Song aus der „Dreigroschenoper“ und verschwindet wieder.

„Warum steht eigentlich eine Mauer zwischen uns und dem Publikum?“, fragt irgendwann Ruth Reinecke als vollbärtiger Geist von Hamlets ermordetem Vater. Sie erzählt aus ihrer Vergangenheit am Maximum Gorki Theater, an dem sie seit 1979 engagiert ist, und davon, dass damals keine Kameras nötig waren, um Hochspannung zu erzeugen. Wie das gelang? „Spiel um dein Leben“, habe der Regisseur This Langhoff einem Schauspieler geraten und alle gemeint.

So nimmt Christian Weise frühere Zeiten, Stile, Einflüsse in schöner dialektischer Praxis in seine Inszenierung auf, stellt deren künstlerisches Vokabular zur Diskussion und macht sich angreifbar für den Aufwand, der er hier betreibt und dessen Ertrag umkalkulierbar ist. Technik setzt er gegen Wahrheit, Improvisation gegen Texttreue. Ob er seinem Publikum heute so viel zutrauen kann wie einst Langhoff? Auch daran hat er Zweifel, wie wer wissen lässt. Die internationale Truppe spricht zwischendurch kurze Passagen auf Englisch, französisch, Arabisch, ohne dass dies aufgebauscht wird. Hanh Thi Tran als Rosenkratz und Dominic Hartmann als Güldenstern treiben das sprachliche Kuddelmuddel vergnügt auf die Spitze: „Je sais ich chönnt au lang mit dir speaken mais le roi, the king et partito!“ Oscar Olivo als Hamlets einziger Freund Horatio ist ein ziemlich tuntiger wie überforderter Regisseur aus New York, dem sein Therapeut geraten hat, Filme zu drehen, um seine Gedanken zu ordnen, und der deshalb immer wieder Strippenzieher in Erscheinung tritt.

In ihrer Inszenierung am Thalia Theater Hamburg breitet Jette Steckel mit unendlichem Shakespeare-Vertrauen „Hamlet“ als großes Kinderspiel aus (F.A.Z. vom 25.Januar). Christian Weise ist dieser Ansatz nicht ganz fremd, aber er entwickelt ihn noch weiter in die mediale Verfremdung und ästhetische Stilisierung hinein. Und also wiederholt die bestechend souveräne Svenja Liesau ein halbes Dutzend Mal Hamlets Sterbeszene, schickt nach und nach alle weg, um sich – „Der Rest ist Schweigen“ – konsequent in das neutrale Objektiv der Kamera zu verabschieden. Die freilich wird zu unserem Auge auf Hamlet, auf Shakespeare und auf all das, was „Sein oder Nichtsein“ umfasst. Damit ist Christian Weise eine eindrucksvoll intelligente, amüsante Interpretation geglückt, so hauptstädtisch und modern wie historisch informiert und bedacht. Lauter Jubel im Container.«

Irene Bazinger, F.A.Z.

»Das größte Drama der Weltliteratur wird – frei nach Heiner Müller – vom New Yorker Filmregisseur Horatio als sur­reale Seifenoper in den Gorki-Container gepfercht (brillante Kulissen: Julia Oschatz) und auf einen hölzernen Eisernen Vorhang projiziert, der nur phasenweise Durchblick auf das lebende Geschehen bietet.
Doch diese Seifenoper hat es in sich: König Claudius hat mit seinem Bruder, Hamlets Vater, nämlich den kommunistischen Weltgeist himself, Karl Marx, ermordet und nach der Heirat mit seiner Schwägerin die sozialistischen Ideen an den Markt verraten. Deutsch-deutsche Wiedervereinigung als unmoralische Familienzusammenführung anderer Art. Kurz: „Es ist was faul im Staate Germany“. Die Tragödie der Gegenwart wird hier als Farce in die Geschichte projiziert. Doch als der Geist in Gestalt Ruth Reineckes (am Gorki seit 1979) den Auftrag erteilt: „Spiel um dein Leben!“, sinnt die junge Hamlet-Darstellerin (als hinreißende Berliner Göre: Svenja Liesau) auf Rache durchs Theater. Dabei geht letztlich nicht nur die gesamte Kernfamilie ihrer „gottverdammten Germans“ drauf, sondern auch die arabischstämmige Familie aus Polonius, Ophelia und Laertes. Auch wenn er nach der Pause deutlich abfällt, zeigt dieser „Hamlet“ als Filmstück über ein sehr „schief vereinigtes Deutschland“ keineswegs nur die „komödiantische Hinterseite eines übergewaltigen Stoffs“ (so die Ankündigung), sondern hebt zugleich den Status quo dieses schiefen Staats in eine historische Tragik, die Weises Version, fein balanciert zwischen Klamauk und hohem Ton, nicht mehr als sichtbar machen kann. Der Rest ist hoffentlich doch mehr als Schweigen.«

Tom Wohlfahrt, taz