Lewis Carroll | Ballhaus Ost Berlin | 2009
Dramaturgie: Maria Linke
Bühne: Jan Freese
Kostüm: Dascha Kornysheva
»Es geht los wie weiland das „Wunschkonzert“ vom alten Kroetz. Eine Frau kommt vom Einkaufen nach Hause; Waschmaschine, Spülstein, Badewanne, Kühlschrank – alles steht auf hab Acht. Wie Giftgas legt sich ihre Einsamkeit unsichtbar und erstickend auf die Szene. Joghurt mit abgelaufenem Verfallsdatum raus aus dem Kühlschrank, man meint: dutzendweise – neues Joghurt rein. Ein bisschen Röcke-lupfendes Aerobic, das Studium der Gebrauchsanweisung des Backofens. Französisch: nein, versteh ich nicht; Englisch: nein, Chinesisch: ja. So gehen hier die kleinen Scherze.
Der Anfang ist die Prunk- und Solostrecke für Anne Tismer. Sie spielt die 30-Jährige, so sagt es das Programm, vom Prenzlauer Berg, schwer Hartz IV-verdächtig und, man wird es am Ende erleben, suizidgefährdet. Tismer hält sich steif in der Körpermitte, beugt den Oberkörper leicht nach vorne, das Gesicht ist, wie seit Nora gewohnt, von unrührbarer Erdenferne, die Beine trippeln, laufen, hasten, als säße in ihnen ein eigner, mit dem Tismer-Rest nicht verbundener Motor.
„Alice under Ground“, für das Christian Weise textfassungs- wie regiemäßig verantwortlich zeichnet, ist ein überraschend bildstarker und einfallsreicher Abend. Mit einem einfachen, aber funktionalen Bühnenbild und famosen, witzigen Schauspielern.«
Nikolaus Merck, Nachtkritik
»Im Ballhaus Ost zeigt der Regisseur Christian Weise – in einer Stückfassung mit der Hauptdarstellerin Anne Tismer nach einer Vorlage von Sören Voima eine so intelligente wie witzige Aktualisierung des berühmten Kinderbuches. Die Umgebung in „Alice Under Ground“ ist nun ausgesprochen städtisch, die heile Natur bloß eine ferne Erinnerung und Alice eine junge Frau, die nach dem Einkauf müde heimkehrt. Sie sinkt auf einen Küchenstuhl, schält einen Apfel und schläft dabei ein. Was sie dann träumt, entspricht Carrolls Geschichten nur in groben Zügen. Das Kaninchen etwa hoppelt nicht einfach daher, sondern purzelt in Gestalt des bluverschmierten, fast nackten Sebastian Arranz wie direkt von der Fleischtheke. Es strampelt sich aus der Frischhaltefolie, und will sich, einigermaßen schizophren, selbst braten. Schließlich verschwindet es, allerdings statt in einem Erdloch jetzt im Klo.
Alice folgt ihm mittels eines der zauberhaften Animationsfilme von Julia Oschatz durch einen gezeichneten Tunnel in die Tiefe. Wenn sie schrumpft oder wächst, wenn sich ihre Füße aus dem Staub machen oder sich ihr Hund Tristan auflöst, verbinden sich Film und Theater hier auf fantastische Weise. Das charmant provisorische Bühnenbild von Jan Freese – eine Rumpelbude von Einraumwohnung – enthält eine fahrbare Badewanne, einen erleuchteten Müllschlucker und etliche geheimnisvolle Nischen, aus denen riesige Erdbeeren, der grausame Grinsekater oder fette Puppen auftauchen. Die Größenverhältnisse sind räumlich ebenso außer Kraft gesetzt wie die Logik, wozu die vielen seltsamen Sätze passen: „Darmstadt ist die Hauptstadt von Würzburg“, ruft die überragende, eindringlich aufspielende Anne Tismer einmal, oder: „Halt den Schnabel, du falscher Hase!“
Es ist, als würde sich Alices Unterbewusstes unter den neuen Umständen plötzlich unzensiert äußern. Statt vom „Lindenbaum“ singt sie vom „Kinderbaum“, der die an seinen Ästen hängenden Kleinen in den Brunnen vor dem Tore schüttelt. Vielleicht als Hinweis auf Carrolls pädophile Neigungen wie als allgemeiner Ausdruck der Verzweiflung von Missbrauchsopfern mischen sich in den Horrortrip, den „Alice Under Ground“ ausmalt, zunehmend mehr Bezüge auf sexuelle Gewalt. Alice wird zur multiplen Persönlichkeit, die ihr gequältes Gehiernn durch Rechenaufgaben abzulenken versucht und am Schluss in Gewaltexzesse flüchtet.
Weises Inzenierung vermag mit putzmunter durchgeformter Anarchie den Bogen zwischen Traum und Albtraum, Imagination und Verdrängung zu schlagen: Hart, aber herzlich.«
Irene Bazinger, Berliner Zeitung